Die Sorge ist berechtigt. Das Problem ist sicher nicht, dass wir unterschiedlicher Auffassung sind. Was uns eint, nämlich der Glaube an die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, schafft keine automatische Einheit in anderen Fragen. Die Evangelische Allianz existiert, um sicherzustellen, dass wir die Einheit und Gemeinsamkeit in zentralen Dingen des Glaubens und die Verpflichtung, das Evangelium allen Menschen zu verkündigen, nicht aus den Augen verlieren. Dieser Glaube macht uns aber nicht schlauer, ob man die Geschwindigkeit auf Autobahnen begrenzen sollte, ob man sichere Atomkraftwerke entwickeln kann oder welche Musik am schönsten ist. In all diesen Fragen sind wir so schlau oder dumm, so voreingenommen oder selbstkritisch wie alle anderen Menschen. In der Realität verteilen wir uns weitgehend gleichmäßig über das Meinungsspektrum. Das Grundproblem ist, wenn Evangelikale zur Corona-Krise so tun, als ob sie über quasi-göttliche oder quasi-absolute oder abschließende Erkenntnisse verfügen, über die andere nicht verfügen, statt genau das Gegenteil deutlich zu machen, dass alle Menschen, auch wir, in der Corona- Krise die Endlichkeit und Vorläufigkeit unseres Wissens deutlicher vor Augen geführt bekommen denn je zuvor. Es spielt dabei keine Rolle, ob mit diesem Absolutheitsanspruch Maßnahmen des Staates abgelehnt werden oder welche Marschrichtung man befürwortet. Es ist ein Missbrauch religiöser Autoritäten, wenn Evangelikale so tun, als wenn ihr Glaube sie befähigt, in der gegenwärtigen Lage abschließende Urteile zu fällen und nach Gefolgschaft zu rufen.
Zur Meldung „Große Sorge um Spaltung unter Christen wegen Corona“ (Nr. 2, S. 29): https://www.thomasschirrmacher.info/blog/ein-missbrauch-religioeser-autoritaeten/